Sportverletzungen wissenschaftlich beleuchtet (1/9)

Sportverletzungen wissenschaftlich beleuchtet (1/9)

A. Sportverletzungen – Viele Meinungen, ein Ziel!

Sportverletzungen können durch lange Ausfallzeiten in Sport sowie Beruf, Schmerzen oder Sekundärverletzungen, erhebliche Auswirkungen auf die Lebensqualität der Sportlerin haben. Die Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin (GOTS) geht sogar davon aus, dass die positiven gesundheitlichen Nutzen des Sportes, durch die Folgen einer Verletzung, verloren gehen können. Weiterhin ziehen sie häufig hohe Primär- und Sekundärkosten für das Gesundheitssystem mit sich, sodass neben der Sportlerin selbst, auch andere Akteure von der Rehabilitation betroffen sind.

Die in diesem Beitrag bereitgestellten Inhalte dienen ausschließlich der Information und allgemeinen Weiterbildung und stellen keine Therapieempfehlung dar. Sie ersetzen nicht die fachliche Beratung durch einen Arzt und dürfen nicht als Grundlage zur eigenständigen Diagnose, Veränderung oder Beendigung einer Behandlung genutzt werden. Auch wenn der aktuelle Stand der Wissenschaft auf der Website mit größtmöglicher Sorgfalt aufgearbeitet wird, erhebt Out Of The Box Science GmbH keinen Anspruch auf Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität der Informationen.
  • Das primäre Ziel der Sportlerin ist die Rückkehr zur ursprünglichen körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit und damit der Wiedereinstieg in den Sport. Sekundär sollen Langzeitschäden und ein Rezidiv vermieden werden.
  • Das Trainerteam wünscht sich von vornherein so wenig Ausfallzeiten wie möglich. Kam es trotzdem zu einer Verletzung, soll eine schnelle Rückkehr in den Wettkampfsport, möglichst ohne Rückfälle erreicht werden.
  • Die Versicherung, als häufiger Geldgeber der Therapie, ist an möglichst geringen Kosten interessiert. Das heißt, wenige Verletzungen, wenige AU-Tage und effektive sowie kostengünstige Behandlungen.
  • Ärzte und Therapeuten wollen die Sportlerin zu ihrem alten Leistungsniveau bringen und Rezidive vermeiden, wobei der zeitliche Faktor zweitrangig ist.

Aus den Erwartungen der an dem Rehabilitationsprozess beteiligten Personen kann sich ein Spannungsfeld entwickeln, dem es als Therapeutin gerecht zu werden gilt.

Um diesen Balanceakt sowie den dazugehörigen Erwartungen Rechnung zu tragen, ist es essenziell, die aktuellen Forschungsergebnisse sowie grundlegende Daten und Fakten zu kennen und diese anwenden zu können.

B. Was ist eine Sportverletzung?

Laut des deutschen Verbandes für Physiotherapie (ZVK) wird als Sportverletzung allgemein jedes Ereignis verstanden, welches bei der Ausübung von Freizeit – oder Leistungssport zu einer Verletzung führt. Um auf vergleichbare Daten zurückgreifen zu können, wird in diesem Beitrag die Definition durch eine Einschränkung der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) ergänzt. Es werden nur Verletzungen gewertet, welche zu Heilbehandlungskosten oder einer Arbeitsunfähigkeit (AU) von mindestens einem Tag geführt haben. Im Profisport bedeutet dies, dass darauffolgende Trainings- und/oder Spieleinheiten ausgesetzt werden mussten.

Nicht posttraumatische Schäden wie Schmerzen, chronische Schmerzen sowie psychische Beeinträchtigung werden aus diesem Kontext ausgeschlossen. Im Rahmen der Sportverletzungen wird unterschieden in:

  • Kontakt-Verletzung
    Verletzung durch eine externe, direkte Krafteinwirkung einer anderen Person oder eines Gegenstandes auf den entsprechenden Körperabschnitt.
    Z. B.: Hämatom am Oberschenkel nach einem Tritt einer Gegenspielerin.
  • Indirekte Kontakt-Verletzung
    Verletzung durch eine externe Krafteinwirkung einer anderen Person oder eines Gegenstandes, unmittelbar vor oder während des Verletzungsvorgangs. Der natürliche Bewegungsablauf wird manipuliert, sodass indirekt, die verletzungsauslösende Situation herbeigeführt wird.
    Z. B.: Supinationstrauma bei der Landung, nach einem Stoß gegen den Oberkörper, während eines Sprunges.
  • Non-Kontakt-Verletzung
    Verletzung ohne externe Krafteinwirkung einer anderen Person, eines Sportgerätes oder einer Spielfeldeinrichtung, wie Tore oder Spielsäulen zur Netzbefestigung.
    Z. B.: Achillessehnenruptur beim abrupten Abstoppen.

C. Die Zahlen dahinter

C.1 Verletzungsprävalenz im Vereinssport

In Deutschland betreiben ca. 23 Mio. Bürgerinnen regelmäßig im Monat Sport. In diesem Kollektiv ist laut (Henke, 2012) jährlich mit circa 2 Millionen Sportverletzungen zu rechnen.

Dabei haben Ballsportarten wie Fußball (46,5 %), Handball (14,8 %), Volleyball (4,9 %) und Basketball (2,9 %) die größte Verletzungsprävalenz. Darauf folgen Gymnastik, Judo, Turnen und Radfahren. Bei diesen Zahlen muss beachtet werden, dass 27,1 % aller Vereinssportlerinnen im Fußball aktiv sind, womit Fußball der mitgliederstärkste Vereinssport ist. Infolgedessen liegt die Überlegung nahe, dass die Verletzungsprävalenz zum Teil auf den hohen Anteil an Fußballspielerinnen in Deutschland zurückzuführen ist.

C.2 Verletzungsprävalenz im Profisport

Die VBG erfasst Sportverletzungen in den ersten zwei Herren-Ligen der vier Teamsportarten Fußball, Handball, Basketball und Eishockey und gibt diese alle zwei Jahre in einem Sportreport heraus. Daten aus den Damen-Ligen werden von der VBG nicht erfasst.

In der Saison 2019/20 (2018/19) ergab die Auswertung, dass sich im Schnitt fast 72 % (76 %) der Spielerinnen mindestens einmal verletzten. Dabei gibt es signifikante Unterschiede zwischen den Sportarten. Der Spitzenreiter ist Fußball mit 53 (70,4) Verletzungen pro Team, darauf folgt Eishockey mit 42 (58,1) Handball mit 36 (51,1) und Basketball mit 21 (27,1) Verletzungen. Davon ziehen 51,8 % (55,6 %) mindestens einen AU-Tag mit sich. Daraus ergaben sich für die VBG mehr als 8,6 Millionen Euro (9,3 Millionen Euro) für Heilbehandlungen und Entgeltersatzleistungen.

🧠 Die signifikante Reduktion an Verletzungen in dem Jahr 2019/20 ist, bedingt durch die pandemische Lage, auf die unterschiedlichen Saisonverläufe in den Ligen zurückzuführen.

C.3 Verletzungslokalisation nach Körperregion

Je nach Sportart und Geschlecht gibt es signifikante Unterschiede in der Verteilung der Verletzungen der jeweiligen Körperregion. Aus Abbildung 1 lässt sich entnehmen, dass sich in den oben benannten Teamsportarten die meisten Verletzungen in der unteren Extremität (UE) abspielen. Die prozentuale Verteilung der Verletzungen der einzelnen Gelenke unterscheidet sich jedoch von Sportart zu Sportart.

Verletzungslokalisation im Profisport je nach Körperregion:

Abbildung 1: Verletzungslokalisation je nach Sportart im Profisport 2018/19. Eigene Darstellung auf Grundlage des VBG Sportreport 2018/19

C.4 Die häufigsten Verletzungen

Neben der sportartspezifischen Häufung von Verletzungslokalisationen treten auch innerhalb der einzelnen Lokalisationen bestimmte Verletzungen vermehrt auf. Mit diesem Hintergrund ist es sinnvoll, sich näher mit der Rehabilitation ebendieser häufigsten Verletzungsarten auseinanderzusetzen. Die nachfolgenden Beiträge der Reihe orientieren sich an dieser Liste und befassen sich mit der Therapie dieser Sportverletzungen.

  • Am Kopf ziehen sich die Sportlerinnen vorwiegend ein Schädel-Hirn-Trauma oder eine Gesichtsfraktur zu.
  • Im Bereich der Schulter treten vordergründig Schulterluxationen und AC-Prellungen oder -Sprengungen auf.
  • Am Oberschenkel ist die Muskelverletzung, das heißt eine Muskelzerrung oder ein Muskelfaserriss der Oberschenkelmuskulatur am häufigsten.
  • Eine häufige Knieverletzung ist die vordere Kreuzbandruptur (VKB-Ruptur)
  • Das Sprunggelenk, das im Gesamtkollektiv der Sportverletzung die höchste Prävalenz hat, ist primär von Außenbandverletzungen am oberen Sprunggelenk (OSG) betroffen.

C.5 Verletzungsmechanismus

Die Entstehung von Sportverletzungen setzt sich aus einer Vielzahl an Faktoren zusammen, die zum Teil durch Training und therapeutische Maßnahmen beeinflussbar sind. Häufig stellt sich die Verletzung als eine Kumulation von Ereignissen, wie das Missverhältnis zwischen Belastbarkeit und Beanspruchung, personenspezifischen Risikofaktoren, mangelnde förderliche Variabilität im Training und verminderte motorische Kontrolle dar (Abbildung 3).

Um Rückschlüsse auf den Verletzungsmechanismus (Kontakt, Non-Kontakt oder indirekter Kontakt) ziehen zu können, untersucht die VBG mittels Videoanalyse das auslösende Ereignis. Ebenso wird analysiert, welche Bewegungsmuster und -richtungen primär mit einer erhöhten Verletzungsanfälligkeit einhergehen.

Im Bereich der unteren Extremität sind die meisten Verletzungen Non-Kontakt-Verletzungen, nur in den seltensten Fällen ereignen sie sich durch gegnerische oder eigene Fouls. Im Gegensatz dazu sind Schulter- und Kopfverletzungen häufig mit gegnerischem Kontakt.

Infolgedessen ist die Analyse der Bewegungsmuster der unteren Extremität zum Verletzungszeitpunkt sehr interessant. Hier konnte die VBG darstellen, dass vor allem Laufen, Sprinten und Springen verletzungsanfällig sind.


Abbildung 3: Modell von Verletzungsursachen. Eigene Darstellung, modifiziert nach Tischer und Seil (2019).

Eine mögliche Schlussfolgerung aus diesen Daten ist die Annahme, dass durch präventive Maßnahmen und ein adäquates Training, eine Reduktion von Sportverletzungen erzielt werden kann. Gestützt wird diese Hypothese durch die Vergleichsdaten der Sportreporte, wo sich seit 2016 eine leicht sinkende Tendenz der Verletzungsinzidenz erkennen lässt, bei gleichzeitig steigenden Präventionsangeboten. Daher erlangt die Prävention sowohl in der Therapie als auch im Training einen steigenden Stellenwert, denn keine Verletzung ist immer noch die Beste.

D. Meilensteine des Rehabilitationsprozesses

Der Rehabilitationsprozess bis zum Wiedereinstieg in den Wettkampfsport nach einer Sportverletzung ist in verschiedene Phasen unterteilbar. In Abhängigkeit der Phase werden unterschiedliche Akteure in die Rehabilitation integriert, wodurch sich die Maßnahmen teils stark unterscheiden (Abbildung 4).

„Unfortunately, while RTS is commonly utilized in research for this purpose, currently there is no widely accepted or standardized definition for when an athlete has officially returned to his or her sport.“ (Doege, 2021)

Aufgrund der im Zitat dargestellten Problematik, erfolgt in dieser Beitragsreihe eine Differenzierung zwischen fünf wichtigen Meilensteinen, wie sie auch die VBG (2021) oder das OSInstitut (2020) verwenden.

  • PRE — Pre-injury-Screening
    Funktionelle Testreihe vor einer Verletzung, die vor jeder Saison durchgeführt werden sollte.
  • RTA — Return-to-Activity
    Wiedererlangung von Basisfunktionen als Mindestvoraussetzung, um den Alltag selbstständig bewältigen und in sportliche Aktivitäten wieder einsteigen zu können.
  • RTS — Return-to-Sport
    In der sogenannten „On-Field-Rehabilitation“, kehrt die Sportlerin zu sportartspezifischem Training zurück, sodass sie an Teilen des Mannschaftstrainings teilnehmen kann.
  • RTP — Return-to-Play
    Rückkehr zur vollen Sport- und Spielfähigkeit. Das heißt, die Sportlerin hat keine funktionellen Einschränkungen mehr und kann uneingeschränkt am Training partizipieren.
  • RTC — Return-to-Competition
    Rückkehr in den Wettkampf über die volle Länge oder den vollen Umfang.
🧠
In dieser Beitragsreihe wird zwischen „Trainerin“, die vorwiegend für das sportspezifische (Mannschafts-) Training und „Athletiktrainerin“, die für die Erstellung und Periodisierung von Trainingsplänen (u. a. Maximalkraft, Schnelligkeit, Reaktivkraft) zuständig ist, unterschieden. Die Übergänge können allerdings fließend sein und eine gute Absprache zur Dosierung der Be- und Entlastung ist zwingend erforderlich.

Abbildung 3: Meilensteine im Rehabilitationsprozess. Eigene Darstellung modifiziert nach Sportreport der VBG (2021)

Um einen optimalen Ablauf der Rehabilitation zu gewährleisten, muss die interprofessionelle Zusammenarbeit, zwischen Physiotherapeutin, Athletiktrainerin, Trainerin und Ärztin also einen besonders hohen Stellenwert einnehmen.

E. Endspurt: Sportverletzungen

Die Prävalenz an Sportverletzungen ist hoch, insbesondere wenn man die weiteren Auswirkungen  bedenkt, welche mit derartigen Verletzungen einhergehen. Neben den Folgen für die sportliche Karriere sind hier die erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität zu nennen sowie die hohen Kosten in der Gesundheitsversorgung. Infolgedessen wird klar, dass die adäquate Rehabilitation und der Versuch der Prävention einen wichtigen Stellenwert in der Forschung einnehmen sollte.

Allein im Laufe einer Saison erleidet eine Profisportlerin durchschnittlich zwei Verletzungen, im Amateursport verletzen sich 5,5 % der Sportelinnen pro Jahr. Speziell im Profisport wird daher von allen Beteiligten ein besonders hoher Fokus auf die Vermeidung von Verletzungen gelegt, um mögliche Folgen zu minimieren.

Kam es dennoch zu einer Verletzung, spielen verschiedene Akteure und ihre Erwartungen im Rehabilitationsprozess zusammen. Gemeinsam mit der Sportlerin soll, ohne das Risiko für ein Rezidiv zu erhöhen, der schnellstmögliche sowie kostengünstige Weg zurück in den Sport gefunden werden. Diesen Erwartungen gilt es als Therapeutin bei der Planung und Durchführung der Rehabilitation gerecht zu werden, wobei die Analyse der Verletzungsmechanismen und -zeitpunkten hilfreich sein kann.

Insbesondere Ball- und Mannschaftssportarten sind verletzungsanfällig, doch im Gegensatz zur naheliegenden Schlussfolgerung, treten viele Verletzungen ohne gegnerischen Kontakt auf.

Das wiederum verdeutlicht die multifaktorielle Natur von Verletzungen: Faktoren wie Kraft, körperliche Verfassung und Motivation können durch Training und therapeutische Maßnahmen positiv beeinflusst werden und einen nachhaltigen Einfluss auf die Zukunft der Sportlerin haben.

Betrachtet man die Verteilung der Verletzungen je nach Körperregion, treten sie, gestaffelt nach ihrer absoluten Häufigkeit, in der folgenden Reihenfolge auf:

  1. Sprunggelenk
  2. Knie
  3. Schulter
  4. Kopf

Im Rehabilitationsprozess ist die enge interprofessionelle Zusammenarbeit Voraussetzung. Dabei ist es hilfreich Begrifflichkeiten, wie PRE, RTA, RTS, RTP und RTC klar zu definieren und Verantwortlichkeiten von Beginn an zu verteilen.

Literatur:

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