⚡️ Im Sprint
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A. Unsere eingebauten „Denkfehler“
Der Sammelbegriff „kognitive Verzerrung“ beschreibt eine Vielzahl an systematischen Abweichungen in den größtenteils unterbewusst ablaufenden Informationsaufnahme-, Verarbeitungs- & Interpretationsprozessen des Menschen. Diese „Denkfehler“ haben sich evolutionär betrachtet als effiziente und hilfreiche kognitive Heuristiken herausgestellt, können aber im wissenschaftlichen Kontext hinderlich sein und zur Beeinflussung von Ergebnissen führen.
Höherwertige Studien wie randomisierte kontrollierte Studien sollten aufgrund ihres Aufbaus dazu führen, dass Formen von kognitiven Verzerrungen reduziert werden.
Daher ist das Verständnis über mögliche Verzerrungen, deren Ursachen und der entsprechenden Handhabung in der Wissenschaft notwendig, um die Literatur und ihre Aussagekraft besser einschätzen zu können.
🧠 „Verzerrungen“ und „Fehler“ können hier nicht synonym verwendet werden – zufällige Fehler verfälschen Ergebnisse einer Studie anders als systematische Verzerrungen. |
B. Wichtige Vertreter
Kognitive Verzerrungen können durch eine Vielzahl an Begriffen festgehalten werden, die jedoch nicht immer scharf voneinander getrennt sind. Anbei eine nicht vollständige Übersicht wichtiger Vertreter:
B.1 Hauptformen kognitiver Verzerrungen
Selection Bias / Stichprobenverzerrung
Systematische Unterschiede (z. B. unzureichende Randomisierung) in der Auswahl / Verteilung von Sportlerinnen in den beiden zu vergleichenden Gruppen führen zu mangelnder Vergleichbarkeit.
Performance Bias / Durchführungsfehler
Systematische Unterschiede in der Behandlungsqualität (z. B. aufgrund der Überzeugungen der Trainerin) führen zu unterschiedlichen Ergebnissen, da nicht die gleiche Kompetenz / Selbstsicherheit oder Freude an den Tag gelegt wird.
Attrition Bias / Verzerrung durch Studienaussteiger
Systematische Unterschiede im Umgang mit Aussteigern aus der Studie – aufgrund der unterschiedlichen Interventionen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Gründe für das Aussteigen aus der Studie in beiden Gruppen gleichwertig und gleich häufig auftreten.
Confirmation Bias / Bestätigungsfehler
Der Mensch neigt dazu, Informationen so zu interpretieren, dass sie die eigenen Überzeugungen unterstützen. Gleichzeitig werden Information so bewertet, dass sie die eigenen Ansichten unterstützen und Informationen denunziert oder ignoriert werden, welche den eigenen Überzeugungen entgegenstehen.
Auf diese Weise können systematische Unterschiede in der Interpretation und Bewertung von Ergebnissen entstehen. Die Trainerin kann z. B. unterbewusst dazu neigen, bei der Interpretation der Ergebnisse einer nicht verblindeten Studie die selbst bevorzugte Intervention besser zu interpretieren.
B.2 Weitere Verzerrungen
Anchoring Bias / Ankerheuristik
Umgebungsinformationen wirken auf die Entscheidungsfindung, auch wenn diese in keinem Zusammenhang stehen.
„Wenn man Sie fragt, ob Gandhi über 114 Jahre alt war, als er starb, werden Sie sein Alter bei seinem Tod viel höher schätzen, als Sie es tun würden, wenn die Ankerfrage auf einen Tod mit 35 Jahren verweisen würde. Das willkürlich gelistete Alter von 114 Jahren wirkt hierbei als Informationsanker, welcher dazu tendieren lässt, die Schätzung des tatsächlichen Alters höher anzusetzen". (Kahnemann, 2011)
Bias Blind Spot / Verzerrungsblindheit
Die Tendenz von Menschen, sich selbst als weniger anfällig für kognitive Verzerrungen zu halten.
Correlation vs. causality / Illusorische Korrelation
Zwei stark zusammenhängende (korrelierende) Variablen sind noch kein Garant für eine tatsächliche Ursächlichkeit (Kausalität). Der Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität wird detaillierter in diesem Artikel beleuchtet.
Halo-Effekt & Horn Effekt
Wenn Beurteilerinnen positive oder negative Eigenschaften bei Menschen erkannt haben, so neigen sie dazu, auch anderen Eigenschaften der Person konsistent als positiv oder negativ zu beurteilen, auch wenn diese in keinem Zusammenhang stehen. Wie durch einen „Heiligenschein“ oder „Teufelshörner“ kann eine positive oder negative Eigenschaft auf andere Eigenschaften einer Person abfärben.
Law of the instrument / Maslow's Hammer
„Nur weil sich bestimmte Methoden als praktisch erweisen [...], heißt das nicht, dass die Methode für alle Probleme geeignet ist. [...] Gib einem Jungen einen Hammer, und alles, was ihm begegnet, muss er zerhauen.“ (Doyle, Mieder, Shapiro, 2012)
Das Zitat verdeutlicht, dass der Mensch dazu neigt, seine gewohnte Methodik wieder und wieder anzuwenden, wobei die eigene Komfortzone nur ungern verlassen wird – auch wenn bessere Behandlungsalternativen vorliegen.
Placebo by Proxy Bias / Stellvertreter-Verzerrung
Beschreibt die Auswirkungen einer Behandlung, welche sich nicht nur auf die Sportlerin isolieren, sondern auch auf ihr direktes Umfeld wirken. Diese Veränderungen im psychosozialen Umfeld können wiederum einen Effekt auf die eigentliche Sportlerin haben. Es ist wichtig zu beachten, dass dieser Effekt auch negative Folgen haben kann. Mehr zum Placebo by Proxy Effekt findet sich im Paper von Grelotti & Kaptchuk (2011).
Recall Bias / Erinnerungsverzerrung
Markante Therapieergebnisse bleiben besser im Gedächtnis als gewöhnliche, sowohl für die Trainerin als auch für die Sportlerin. Daher werden einzelne Extremerfahrungen bedeutsamer wahrgenommen als der aussagekräftigere Durchschnitt. Schlechte Erfahrungen mit einer Übung des Krafttrainings können somit dazu führen, dass bei der Sportlerin Krafttraining als Gesamtkonzept auf Abneigung trifft – obwohl die Vorteile die Nachteile überwiegen und eine einzelne Erfahrung nur wenig generalisierbar ist.
Social-desirability bias / Soziale Erwünschtheit
Um soziale Normen zu erfüllen, können Menschen in ihren Reaktionen dazu neigen, ihre tatsächlichen Ansichten zu verschleiern. Dies kann entstehen, da durch die verzerrte Antwort angenehmere Emotionen ausgelöst werden, um sich zu anderen zugehörig zu fühlen oder auch um die Erwartung anderer zu erfüllen.
Zum Beispiel kann eine Probandin dazu neigen, der Wissenschaftlerin im Zweifel eher die Antwort zu geben, von welcher die Probandin ausgeht, dass sie erschwünscht ist.
C. Relevanz des Wissens um kognitive Verzerrungen
In den letzten Jahrzehnten haben sich über 235 Begriffe um verschiedene kognitive Verzerrungs-Formen gefunden. Da jede Studie potenziell einem Verzerrungs-Risiko unterliegt, ist es hilfreich, sich in diesem Feld orientieren zu können. Gelesene Studien können so tiefgreifender von Trainerninnen gefiltert und eingeordnet werden.
Individuen, wie etwa Sportlerinnen, als komplexe und potenziell fehlbare Systeme zu verstehen, kann dabei helfen, die Akteure im Wahrnehmungsprozess anzuerkennen und Schlüsse sowie Ergebnisse zu hinterfragen. Denn Emotionen, grundlegende Einstellungen, Vertrauensverhältnisse, zwischenmenschliche Beziehungen und Placebo-Effekte sind zu jedem beliebigen Zeitpunkt in der Lage, die eigentliche Wirkung von Interventionen zu verzerren. Ein spannender Effekt, solange man sich darüber im Klaren ist, dass eben keine Intervention in einem Vakuum verstanden und angewendet werden kann.
↪️ Aufs Feld Kognitive Verzerrungen sind allgegenwärtig und können nicht nur Studienergebnisse beeinflussen, sondern auch die Effektivität von Training und Therapie positiv wie negativ modulieren. Während sich der Einfluss von systematischen Verzerrungen auf das Ergebnis von wissenschaftlichen Arbeiten auf ein Minimum begrenzen sollte, können kognitive Verzerrungen in der Praxis zwar nur schwer kontrolliert, unter Umständen aber sogar für eine bessere Effektivität genutzt werden (z. B. Placebo by Proxy). |